Myre, Nadia
(In)tangible Tangles, 2021
Courtesy: Nadia Myre
Nadia Myre ist eine interdisziplinär arbeitende Künstlerin aus Montreal, Kanada, die sich in ihren Arbeiten vorwiegend mit indigenen Geschichten und Identitäten sowie historischem und gegenwärtigem indigenem Widerstand auseinandersetzt. Als Mitglied der Algonquin und Kitigan Zibi Anishinabeg First Nation ist sie selbst Nachkommin von Überlebenden der europäisch kolonialen Expansionsgewalt.
In ihrer Arbeit [In]tangible Tangles (2021) zeigt Myre gerahmte Drucke von fotografierten Mokassins, die sie aus der Datenbank des Smithsonian National Museum of Natural History (Washington D.C.) ausgewählt hat. Sie wurden von ihr zurechtgeschnitten und farbinvertiert. Den Fotografien verleiht das ein röntgenbildartiges Aussehen, das an die Durchleuchtung von Gemälden erinnert, bei denen eine versteckte Bildebene vermutet wird.
Sowohl Fotografieren als auch Röntgen als wissenschaftliche Methoden sind für Myre keineswegs objektive oder gar unschuldige Bildtechniken. Sie dienten im Kontext kolonialer Expansion der systematischen Dokumentation und Kartierung indigenen Lebensraumes.
Durch die Rahmung und die plastische Farbgebung wirken die Fotografien objekthaft: Die Mokassins sehen so aus, als wären sie eben abgestellt worden und als warteten sie nur darauf, dass zwei Füße wieder in sie hineinschlüpfen. Diese spürbare Abwesenheit verweist mit der Deutlichkeit der Leere auf die fehlenden Körper der Menschen, die diese Schuhe einmal getragen haben. Sie bezeugen die Auslöschung ganzer Stämme und Völker durch die Gewalt der europäischen Kolonisation. Die kürzliche Entdeckung von Massengräbern mit Kinderleichen auf dem Gelände ehemaliger Boarding Schools für die indigene Bevölkerung von Kanada führt das unvorstellbare Ausmaß dieser Gewalt vor Augen.
Myre vollzieht mit ihrer Arbeit eine dekoloniale Geste, die sich kritisch zu westlichen institutionellen Praktiken des Sammelns, Archivierens und Historisierens positioniert. Hier wird das Fehlen umfassender Restitution ebenso adressiert wie die Einordnung von Objekten indigener Lebensweisen in naturwissenschaftliche Museen, die Indigene zum Anderen des europäisch zivilisierten Menschen degradiert. Die Künstlerin eignet sich die Artefakte ihrer Vorfahren wieder an, indem sie diese aus dem Kontext der naturkundlichen Sammlung herauslöst und einen alternativen diskursiven Raum schafft, der es diesen Dingen ermöglicht, ihre eigenen Geschichten zu erzählen.
Text: Lena Reitschuster
Nadia Myre ist eine interdisziplinär arbeitende Künstlerin aus Montreal, Kanada, die sich in ihren Arbeiten vorwiegend mit indigenen Geschichten und Identitäten sowie historischem und gegenwärtigem indigenem Widerstand auseinandersetzt. Als Mitglied der Algonquin und Kitigan Zibi Anishinabeg First Nation ist sie selbst Nachkommin von Überlebenden der europäisch kolonialen Expansionsgewalt.
In ihrer Arbeit [In]tangible Tangles (2021) zeigt Myre gerahmte Drucke von fotografierten Mokassins, die sie aus der Datenbank des Smithsonian National Museum of Natural History (Washington D.C.) ausgewählt hat. Sie wurden von ihr zurechtgeschnitten und farbinvertiert. Den Fotografien verleiht das ein röntgenbildartiges Aussehen, das an die Durchleuchtung von Gemälden erinnert, bei denen eine versteckte Bildebene vermutet wird.
Sowohl Fotografieren als auch Röntgen als wissenschaftliche Methoden sind für Myre keineswegs objektive oder gar unschuldige Bildtechniken. Sie dienten im Kontext kolonialer Expansion der systematischen Dokumentation und Kartierung indigenen Lebensraumes.
Durch die Rahmung und die plastische Farbgebung wirken die Fotografien objekthaft: Die Mokassins sehen so aus, als wären sie eben abgestellt worden und als warteten sie nur darauf, dass zwei Füße wieder in sie hineinschlüpfen. Diese spürbare Abwesenheit verweist mit der Deutlichkeit der Leere auf die fehlenden Körper der Menschen, die diese Schuhe einmal getragen haben. Sie bezeugen die Auslöschung ganzer Stämme und Völker durch die Gewalt der europäischen Kolonisation. Die kürzliche Entdeckung von Massengräbern mit Kinderleichen auf dem Gelände ehemaliger Boarding Schools für die indigene Bevölkerung von Kanada führt das unvorstellbare Ausmaß dieser Gewalt vor Augen.
Myre vollzieht mit ihrer Arbeit eine dekoloniale Geste, die sich kritisch zu westlichen institutionellen Praktiken des Sammelns, Archivierens und Historisierens positioniert. Hier wird das Fehlen umfassender Restitution ebenso adressiert wie die Einordnung von Objekten indigener Lebensweisen in naturwissenschaftliche Museen, die Indigene zum Anderen des europäisch zivilisierten Menschen degradiert. Die Künstlerin eignet sich die Artefakte ihrer Vorfahren wieder an, indem sie diese aus dem Kontext der naturkundlichen Sammlung herauslöst und einen alternativen diskursiven Raum schafft, der es diesen Dingen ermöglicht, ihre eigenen Geschichten zu erzählen.
Text: Lena Reitschuster